Mittwoch, 18. Oktober 2023

90| Oświeçim

"Stowed Curtain Limit" war mein ursprünglicher Arbeitstitel für diesen Post, nachdem ich auf einem Kurzstreckenflug direkt hinter dem kleinen, halbherzig zugezogenen Vorhang saß, der den einzigen Business-Reisenden von uns schnöden Economy-Passagieren trennen sollte, und ich mich fragte, ob einerseits Tina Turner mit "Stowed Curtain Limit" ebenso erfolgreich wie mit "Nutbush City Limits" gewesen wäre und ob es andererseits wohl Leute gibt, die Sicherheitsbedenken äußern oder gar Hand anlegen, wenn der verstaute Vorhang bei Taxi, Takeoff oder Landing nicht vorschriftsmäßig innerhalb des Limits baumelt?


 Wie auch immer, ich bin Wiederholungstäter und zum zweiten Mal in Krakau. Das Hotel hab ich gegenüber meinem letzten Besuch jedoch gewechselt. Immer noch eine gute Lage, etwa 20 Minuten Fußweg zum Rynek Glowny und damit zu "Costa".


Zur Weichsel ist's schon deutlich weiter, aber zur Not gibt's ja die Straßenbahn. Nach Umbau eines 100 Jahre alten, runtergerockten und offenbar schon lange leerstehenden Mietshauses erst vor wenigen Wochen eröffnet, ist das mit bisschen über 40 Zimmern ziemlich kleine "The Crown Kraków" geschmackvoll eingerichtet, riecht überall noch herrlich neu, bietet großartiges Frühstück, irgendwann wohl auch ein Gym und eine Außenterrasse und zur Zeit leider eine furchtbare Kissenauswahl. Kissen unterschiedlichster Größe aus Beton. Ich hab's mit Handtüchern als Kopfkissenersatz probiert, gute Erfolge letztlich aber mit der flauschigen Decke, die tagsüber am Fußende über's Bett geworfen wird, erzielt. Richtig gefaltet passt sie exakt in einen der Kissenbezüge.


Die Altstadt, das Viertel Kazimierz und - für eine erneute Rundwanderung - der Park Zakrzowek, diesmal mit herbstlichem Anstrich, waren fest eingeplante Ziele und für jeden Krakau-Besucher eine Empfehlung von mir.


Genug der bunten Bilder.

Hauptgrund für meinen zweiten Besuch so kurz nach dem ersten war nämlich ein anderer. Und an jenem Ort wollte ich mir strahlenden Sonnenschein und Menschen in kurzer Hose und Hard-Rock-Cafe-T-Shirt nicht vorstellen. 
Oświeçim - eine Stadt, die traurige Berühmtheit erlangte durch das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Schon lange war es mir ein dringendes Bedürfnis diesen Ort zu besuchen, nicht aus Sensationsgier, sondern um zu begreifen, was gar nicht zu begreifen ist. Am Ende unserer Führung sagte der Guide sinngemäß: Das, was hier geschah, taten keine Maschinen, keine Roboter; es waren Menschen.

In den Jahren 1940 bis 1945 sind in Auschwitz etwa 900000 Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle und andere vom NS-Regime verfolgte Menschen aus Polen, Ungarn, Griechenland, aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, aus Luxemburg, Belgien, der Tschechoslowakei, aus Italien, Österreich, der Sowjetunion u.a. Regionen in den Gaskammern ermordet oder erschossen worden. Weitere etwa 200000 Häftlinge starben in Folge der unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen, an Hunger, Krankheit, medizinischen Versuchen. 


Und doch gab es Zeichen des Aufbegehrens. In der Torinschrift "Arbeit macht frei" steht das B auf dem Kopf. Gewertet wird dies als bewusster Akt des Widerstandes und des Protests derjenigen Häftlinge, die den Schriftzug auf Befehl der SS schmieden mussten.

Nach Passieren einer beklemmenden, von hohen Mauern aus nacktem Beton umschlossenen langen Rampe und begleitet von über Lautsprecher verlesene Namen von Opfern der Todesfabrik begann dort auch unsere Führung durch das Lager Auschwitz I, welches 1940 auf einem ehemaligen Kasernengelände errichtet wurde. Hier fanden neben anderen Gräueltaten ab 1941 erstmals Versuche mit Zyklon B zur Massenvernichtung von Menschen statt.


Nach einem mehr als zweistündigen Rundgang mit zahlreichen nicht in Worte zu fassenden Eindrücken ging es zum riesigen Lager Auschwitz II, das ab 1941 vor allem sowjetische Kriegsgefangene auf dem Gebiet des Dorfes Brzezinka (Birkenau) errichten mussten. Zunächst als Kriegsgefangenenlager geplant, wurde Auschwitz-Birkenau nach der Wannsee-Konferenz zum größten Massenvernichtungslager.


Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit rauschte unser Guide hier ziemlich schnell mit uns durch. Etwas mehr Zeit um die unfassbaren Dimensionen dieses Lagers zu begreifen und um innezuhalten, hätte ich mir gewünscht. 
Zurück im Bus breitete sich Schweigen aus. Beim Blick aus dem Fenster sah ich einen Sonnenuntergang so rot, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Das folgende Foto vermag dies nur ansatzweise wiederzugeben. An nahezu jedem anderen Ort dieser Welt wäre sicher jeder voller Begeisterung gewesen. Hier schien es, als täte sich die Hölle auf.


Elie Wiesel, Friedensnobelpreisträger, Schriftsteller und Überlebender des Holocaust, beschreibt seine Ankunft in Auschwitz (Zitat aus "Plädoyer für die Toten"):
In der Ferne schlugen gelbe und rote Feuergarben, ausgespuckt von gewaltigen Fabrikschornsteinen in die mondlose Nacht, als wollten sie den Himmel in Brand stecken. 
Eine Viertelstunde später lief unser Zug in einen kleinen Vorortbahnhof ein. Wer an den Luken stand, rief den Stationsnamen den anderen zu: Auschwitz. 
Jemand fragte: „ Sind wir angekommen?“ 
Ein anderer antwortete: „Ich glaube, ja.“ 
„Haben Sie den Namen Auschwitz schon mal gehört?“ 
„Nein, noch nie.“ 
Dieser Name erweckte keine Erinnerung und keine Angst. Der Geographie unkundig wähnten wir uns in einem kleinen friedlichen Ort in Schlesien. Noch wussten wir nicht, dass er durch seine Bevölkerung von mehreren Millionen Toten bereits in die Geschichte eingegangen war. Eine Minute später haben wir es erfahren. 
Die Wagentüren öffneten sich mit ohrenbetäubendem Ächzen, und eine Armee ehemaliger Gefangener begann zu schreien. 
„Endstation! Alles aussteigen!“ 
Als gewissenhafte Fremdenführer malten sie uns die Überraschungen aus, die uns erwarteten. 
„ Kennt ihr Auschwitz? Nein? Umso schlimmer, ihr werdet es kennen lernen.“ 
Sie grinsten höhnisch. 
„Ihr kennt Auschwitz nicht? Wirklich nicht? Es erwartet euch hier jemand. 
Wer? Der Tod. Der Tod wartet auf euch. Nur auf euch wartet er. Schaut nur, ihr könnt ihn sehen …“ 
Und sie zeigten uns das Feuer in der Ferne.